Böses Meideverhalten?

„Jetzt zeigt er Meideverhalten, das ist schlecht!“

So tönt es manchmal und deswegen möchte ich dem Meiden mal das Munkeln nehmen. Was ist Meiden und wann entsteht es?

Macht der Hund eine Erfahrung mit einer für ihn unangenehmen Konsequenz, dann löst das in dem Moment Stress aus. Nehmen wir also mal an, er tritt auf ein Gitter am Boden vor einer Tür und empfindet es als sehr unangenehm an den Füßen.

Im ersten Moment wird das einen Schreck bei ihm auslösen, eine kurze Reaktion des Körpers, die das Stress-System einmal schnell hochschießen lässt.

Sobald der Hund aber realisiert, dass er nicht auf eine giftige Schlange getreten ist oder etwas anderes, schlimmes passiert ist, sondern es nur ein lebloses Gitter war, dass ihn da in den Fuß gezwickt hat, fährt sich dieses System auch direkt wieder runter.

Puh!

Der Hund merkt sich aber diese Situation und bringt sie erstmal mit dem gesamten Kontext in Verbindung. Hier an dieser Stelle, an diesem Ort, mit diesen Menschen und tagsüber sollte man aufpassen, wo man lang geht.

Er wird verunsichert sein und eventuell sogar etwas ängstlich oder schreckhafter weiterziehen. Er weiß ja nicht, was da grade passiert ist und vor allem weiß er nicht WARUM und ist daher erstmal grundsätzlich in Alarmbereitschaft.

Tritt er nun auch an einem anderen Ort auf ein Gitter, erschreckt er sich wieder, empfindet das Gefühl als unangenehm und verknüpft nun, dass es sich anscheinend spezifisch um das Gitter dreht.

Er kann entschlüsseln, dass man nicht plötzlich unverhofft in den Fuß gezwickt wird, sondern dass es ausschließlich passiert, wenn man ein Gitter betritt.

Und schon verliert die Situation ihren Schreck und auch die Angst vor dem Reiz zeigt sich nun als unbegründet.

Sobald die Erkenntnis geschaffen ist, erholt sich das Gehirn und das Stress-System, denn nun gibt es eine Lösung für das Problem: Nicht auf das Gitter treten.

Ein paarmal ausprobiert, bekommt der Hund nun Sicherheit und lernt, dass er auch ganz nah am Gitter vorbeilaufen, darüber springen und daneben schlafen kann und dass nichts passiert, so lange er nur nicht drauf tritt.

Das bewusste und gezielte Nichtdrauftreten nennt man Meideverhalten.

Meiden ist keine Angst vor etwas, sondern das, was übrig bleibt nach der unangenehmen Erfahrung und mit der Sicherheit, dass man selbst entscheiden kann, ob man die unangenehme Erfahrung wieder machen möchte.

Der Hund hat aber keine Angst vor dem Gitter. Er benimmt sich in der Gegenwart des Gitters nun völlig frei und fröhlich und meidet einfach das Drauftreten.

Das bewusste Entscheidenkönnen gibt ihm wieder Sicherheit und Ruhe und die Selbstwirksamkeit der Lernerfahrung macht ihn resilienter als vorher.

Notwendig dafür war die Erfahrung, die sich wiederholt hat, bis der Hund sie ganz eindeutig zuordnen konnte. Und auch die Fähigkeit des Hundes, die Entscheidung zu treffen. Also genügend Selbstregulation und Möglichkeiten sich zusammenzureißen, um nicht unabsichtlich auf das Gitter zu stürmen, weil er sich nicht kontrollieren konnte. Auch die Erfahrung, dass es eine Alternative gab und er am Gitter vorbeilaufen und so trotzdem seinen Weg fortsetzen konnte gehören dazu.

Meiden heißt also eine gewollte Entscheidung für oder gegen etwas zu tun, was man früher anders getan hätte, was man aber heute damit verbindet, dass es zu einer unangenehmen Konsequenz kommen könnte.

Das Gefühl der Angst oder auch Unsicherheit verschwindet beim Meiden vollständig und der Hund agiert im besten Fall und mit genügend Erfahrung ohne eine Stressreaktion.

Meidet der Hund Kontakte aufgrund von Erfahrungen, ohne dabei zu fliehen, also ohne das Gefühl von Angst, dann nennt man das „Rückzug“.

Rückzug heißt also, sich einem Kontakt zu entziehen, aufgrund einer Erwartung oder Erfahrung, ohne dass es den Hund (noch) mit einem Gefühl von Angst, Schreck oder Unsicherheit überflutet. Hunde können also sehr ruhig und entspannt und sehr selbstsicher den Rückzug antreten oder Meiden.

So wie Du gelernt hast, dass falsch parken ein Ticket gibt und es ausprobiert hast. Du meidest das absolute Halteverbot ohne ein Angstempfinden. Du zitterst nicht aufgeregt mit schwitzenden Händen, wenn Du an einem Halteverbotsschild vorbeikommst, sondern meidest nur das Parken dort. Ganz entspannt.

Als Du Deinen Führerschein gemacht hast, hat Dich die Situation aber noch verunsichert, weil Du noch nicht ganz genau wusstest, wann Du wirklich ein Ticket bekommst.

Du steckst das Geld der Arbeitskollegin, dass sie auf dem Tisch liegengelassen hat, nicht in Deine Tasche. Ohne dass Du schwer atmest und bleich wirst vor Angst vor einem Gefängnisaufenthalt. Du lässt das Geld einfach liegen und gut ist.

Du fasst aber trotzdem nicht mal hin, damit niemand denkt, dass Du es klauen möchtest. Du meidest.

Unsere kognitiven Erklärungen mit Moral und Ethik sind am Ende dann aufgesattelte Begründungen für ein Verhalten, dass wir schlichtweg durch Erziehung gelernt haben und das uns in Fleisch und Blut übergegangen ist. Die Empathie für die potentiell Bestohlene kommt erst danach als Erklärungsmodell für uns dazu, um uns in unserem Tun zu bestätigen. Unsere Reaktionen sind genauso gefühlsgelenkt und erlernt wie die der Hunde, nur dass wir uns gern einreden, seeehr logische Gründe dafür zu haben. Am Ende ist soziales Lernen und Anpassung an die Regeln der Gruppe auch für uns sinnvoller als ein paar schnell eingesteckte Scheine.

Meideverhalten hat also etwas mit unangenehmen Erfahrungen im Ursprung zu tun, wurde dann aber zu einer selbstwirksamen und selbstgewählten Reaktion als Anpassung. Es ist nicht böse, ungesund oder schlecht, sondern genau das, was wir als Resultat von angemessenen Begrenzungen erhalten möchten. Der Hund soll sich selbst gezielt bremsen, etwas zu tun, ohne dass wir jedes Mal dafür sorgen müssen, dass er von neuem eine unangenehme Erfahrung macht. Eine faire, verständliche Unterbrechung, die konsequent und nachvollziehbar für den Hund ist und ein Hund, der die Fähigkeiten hat, sein Verhalten entsprechend anzupassen führen zum Glück nicht zu dauernder Angst, sondern einfach nur zu gesundem Meideverhalten. 

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